Wie man Kinderseelen durch unsachgemäße Perückenversorgung schädigen kann…

17. September 2015


… eine berührende Geschichte über ein 4-jähriges Mädchen aus meinem Alltag. Dass in unserer Branche oftmals die fachliche Qualifikation nicht sehr hoch angesiedelt ist, daran habe ich mich ja schön fast gewöhnt. Dass aber mit unqualifiziertem Handeln aber auch Schicksale verbunden sind, wurde mir im nun folgenden Fall wieder einmal in drastischer Art und Weise vor Augen geführt. (News-Bild Janosch Simon für Haar Vital)

Die Hilflosigkeit der Betroffenen gegenüber den „Leistungserbringern“, die so etwas zu verantworten haben und gegenüber der Krankenkassen – ist nicht tragbar.

Herbst 2014 – Wir riefen durch Facebook zum Casting für ein Vorher-Nacher-Perückenfotoshooting auf. Gesucht wurden Frauen mit Alopecia Areata Totalis, also Frauen ohne Haare. In dieser Zeit rief mich eine Dame aus dem Frankfurter Raum an, ob denn noch Modelle gesucht würden und sie mir gerne Ihre Tochter vorstellen würde, die 4 Jahre alt sei und an dieser Krankheit leidet. Ich sagte ihr, dass wir eigentlich Fotoshootings mit Minderjährigen aus moralischen Gründen ablehnen.

Daraufhin schilderte sie mir das Leid Ihrer Tochter. Ihre Tochter Sarah sei vier Jahre alt und ihr innerhalb weniger Wochen alle Haare ausgefallen. Sarah wurde mit einer Perücke durch eine Frankfurter Firma versorgt. Diese Perücke sei aber optisch schon nach sehr kurzer Zeit in einen schlechten desolaten Zustand geraten. Durch das Kratzen auf der Haut, ist die Perücke außerdem nicht tragbar.

Ich vereinbarte mit den beiden einen Termin, um mir mal ein Bild von der Sachlage zu machen und lernte Sarah als lebendiges, trotz ihrer Haarlosigkeit, fröhliches Kind kennen. Jedoch wäre ihr größter Wunsch, wieder lange Haar zu haben. So wie Ihre Barbie, die habe so schöne Haare. Puhh, niemand kann sich vorstellen, welchen Klos ich Hals hatte. Das war sehr emotional, denn Kinder haben so wenig Möglichkeiten auf ihr Schicksal Einfluss zu nehmen, sie sind auf Menschen angewiesen die ihr Schicksal zum Guten wenden – wie z.B. Ihre Eltern.

Aber das, was ich nun zu sehen bekam, verschlug mir erst einmal komplett die Sprache und innerlich habe ich geweint. Man hatte Sarah eine Perücke aufgesetzt, die zum einen überhaupt nicht saß, also auf dem Kopf hin und her rutschte und bis auf den Oberkopf komplett aus maschinell gefertigten Tressen bestand. Dadurch kratzte die Perücke auf dem Kopf und fiel bei jeder Bewegung fast vom Kopf.

Aber jetzt kommen wir mal zum Optischen: Oh ja, da hat sich jemand besonders Mühe gegeben, wie man sieht eine „kindgerechte Frisur“! Natürlich aus Kunsthaar – was bei dieser Haarlänge absolut unangemessen ist, da die Perücke nach kürzester Zeit verschleißt. ABER eine Lacefront hat die Perücke – damit sie natürlich aussieht. Die Perücke juckt und kratzt, rutscht bei jeder Bewegung fast vom Kopf und ist aus billigem Kunsthaar gemacht, aber sie sieht am Ansatz total natürlich aus. Welch ein Hohn, das hat schon fast satirische Züge. Unfassbar, das grenzt schon an Körperverletzung. Und was ist mit den Kindern in Ihrem Kindergarten, wenn der Wind einmal auf den Kopf bläst und man durch die Tressen auf die blanke Kopfhaut guckt?  Was dem Kind psychisch damit angetan wird ist grausam.

Natürlich kann Sarah so nicht wie jedes andere Kind Toben, Spielen, Schwimmen, Plantschen, ja einfach glücklich ihr Leben als Kind genießen. Nein im Gegenteil – durch diese Perücke ist sie noch mehr behindert als ohne. Aber Sarah will doch nur Haare! Hier hat das Schicksal zugeschlagen und Sarah ist hilflos. Hier hat jemand nur ans Geld gedacht und ihr eine Perücke verpasst, die völlig untauglich ist, um Sarah ein Leben mit Haaren zu ermöglichen.

Ich erklärte Sarah und ihrer Mutter, dass man heute Perücken machen kann, die nicht nach Perücken aussehen und dass ich Sarah eine Perücke machen werde, mit der sie – wie jedes andere Kind ohne Einschränkung – ihr Leben leben kann.

Folgende Maßnahmen und Kriterien an die neue Perücke müssen erfolgen:

Die Perücke muss in dem Fall nach Maß gefertigt werden.

Dabei muss es gelingen eine Montur zu kreieren, die sozusagen mit wächst. Denn bei Kindern wachsen die Köpfchen verhältnismäßig schnell und die Montur muss den größerwerdenden Kopfumfang ausgleichen.

Der erste Schritt zu Sarahs neuer Perücke war das richtige Maßnehmen des Kopfes. Ich erstellte einen Gipsabdruck. Auf Basis des Abdrucks fertigten wir in der Werkstatt eine speziell auf Sarahs Kopf angepasste Montur. Hierbei war wichtig, durch Kombination von verschiedenen Systemen und Materialien, einen Unterbau zu konstruieren, der das Wachsen von Sarahs Kopf ausgleichen kann.

Zugleich soll die Montur (=Unterbau) leicht, luftig und doch extrem robust sein. Denn bei Kindern muss so eine Perücke viel mehr aushalten als bei Erwachsenen. Nach 4 Wochen intensiver Arbeit war es dann endlich soweit. Wir konnten die Montur an Sarahs Kopf anprobieren. Ein spannender Moment, aber die Montur saß wie angegossen – nur noch die Kontur zurecht geschnitten und dann konnte man mit der Beknüpfung der Montur beginnen.

Millimeter um Millimeter wird die komplette Montur mit Haaren bestückt. In bis zu 140 Arbeitsstunden wird jedes Haar einzeln eingeknüpft. Nach nochmals 4 Wochen war dann der große Moment gekommen, an dem ich Sarah, den Perückenrohling aufsetzen und zur Frisur zuschneiden konnte.

ENDLICH –  nach 6 Monaten ohne Haare und einer Odyssee, hat sich Sarahs Schicksal, was die Haare betrifft zum Besseren gewendet. Die Perücke sitzt wie angegossen und nun kann Sarah wie alle Kinder in ihrem Alter spielen, toben und planschen – ohne Angst zu haben, dass ihr die Perücke vom Kopf rutscht.

Im Übrigen hat sich die Krankenkasse an den Kosten der Perücke in Höhe von 2500,00 € mit läppischen 350,- € beteiligt. Den Rest haben wir als Sachspende aufgebracht und keinen einzigen Euro für unsere Arbeit verlangt und hoffen, dass Sarah lange Freude an ihrer Perücke hat.

Thorsten Ofer


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